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Wenn die Seele weint

Wenn eine Seele weint, aber der Mund schweigt, dann spricht der Körper.


Jeder von uns hat schon einmal eine schlechte Zeit durchlebt, die einen mehr, die anderen weniger, einige intensiver und andere nur in geringerer Ausprägung.  Manche von uns waren vielleicht sogar schon einmal an einem Punkt, an dem sie nicht mehr so wirklich vor Augen hatten, was ihr Leben denn eigentlich noch lebenswert macht. Wenn wir an so einem Punkt angekommen sind, sehen wir keinen Ausweg mehr, wir scheinen ganz allein mit unseren Gedanken und Problemen. Es fühlt sich so an, als würde uns niemand verstehen. Manchmal können wir einen relativ klaren Auslöser dieser "schlechten Laune", wie sie im Volksmund genannt wird, ausmachen - ein Familienmitglied ist plötzlich gestorben, wir erleben Mobbing am Arbeitsplatz oder es kam vor Kurzem zu einem schweren Unfall, der uns in unserer körperlichen Freiheit stark eingeschränkt hat. In anderen Fällen verstehen wir gar nicht, warum wir uns so schlecht fühlen, weinen ohne ersichtlichen Grund und sind auf unerklärliche Art und Weise um ein Vielfaches gereizter als sonst.

 

Egal wie, egal wann - es ist von großer Bedeutung in solchen Fällen zu erkennen: Was ist eine Depression und wie erkenne ich sie bei mir oder bei Menschen in meinem sozialen Umfeld? Was kann ich tun, wenn ich die Symptome einer Depression aufweise? Wo kann ich Hilfe bekommen und warum ist es so wichtig diese auch anzunehmen? 


Als Psychiaterin habe ich ein zweigeteiltes Aufgabenfeld: auf der einen Seite kümmere ich mich um die medikamentöse und medizinische Behandlung von psychisch kranken Patientinnen und Patienten. Auf der anderen Seite aber führe auch ich als Ärztin psychotherapeutische Gespräche und arbeite mit den Menschen an ihrer Krankheit im sogenannten "Einzel" oder in der Gruppe. Egal aus welcher Perspektive ich nun die Depression betrachte - sie ist nicht nur die am häufigsten diagnostizierte psychische Erkrankung, sondern auch eine der am besten zu behandelnden Krankheiten. Deswegen ist es mir persönlich ein sehr großes Anliegen, dass sich (womöglich) Betroffene auch diese Hilfe holen und keine Angst vor einem Besuch beim Psychiater oder einer Therapie beim Psychotherapeuten haben. Alles Unbekannte und Unverständliche ist unheimlich. Wir begegnen einem Menschen mit psychischen Krankheiten anders als Menschen mit somatischen Erkrankungen. Ein Beinbruch wird in eine völlig andere Schublade gesteckt als eine Depression - niemand würde bei einem gebrochenen Oberschenkel auf die Idee kommen nicht zum Arzt zu gehen, oder? 

Ich möchte Ihnen im Folgenden erklären, woran man eine klassische Depression erkennt. Sie sollen nach Lesen des Artikels verstehen, was eine Depression ist und was man dagegen tun kann. Wir werden uns ansehen, was der Psychiater im Falle einer Depression macht und erkennen, dass kein gruseliger Hokuspokus im Spiel ist. Denn am Ende des Tages ist auch eine psychische Erkrankung in ihrer Symptomatik durch organische Vorgänge zu erklären - ganz einfach also. Nun benötigen wir zunächst für das Erkennen einer Depression drei wichtige Vokabeln...

Die Stimmung

Wir beginnen mit einer ganz einfachen, unkomplizierten und sehr deutschen Vokabel: Die Stimmung. Bestimmt können Sie sich darunter etwas vorstellen. Man könnte auch einfach salopp "die Laune" sagen und würde damit in eine ähnliche Kerbe schlagen. Nun ist es aber sehr wichtig zu differenzieren: Bin ich depressiv, wenn ich heute weine, weil gestern meine Mutter gestorben ist? Ist mein Kind depressiv, wenn es über eine schlechte Note in der Schule traurig ist? Soll mein Partner jetzt wohl depressiv sein, weil er heute morgen mal mit dem falschen Fuß aus dem Bett gestiegen ist? Nein, nein und nein. Natürlich nicht. Hier handelt es sich um Anpassungsvorgänge, die selbstverständlich völlig im Rahmen der Norm erfolgen. Schließlich ist es ganz normal in manchen Situationen traurig zu sein oder mal einen schlechten Tag zu haben. Wenn wir uns die Stimmung im Rahmen der Diagnostizierung einer Depression anschauen, dann muss diese immer über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen gedrückt sein. Nun ist es verständlicherweise jedoch so, dass die meisten Menschen auch nach zwei Wochen mieser Laune noch nicht den Psychiater aufsuchen möchten. Doch wenn sich die schlechte Stimmung über einen Zeitraum von mehreren Monaten nicht bessert ist Vorsicht geboten. 

Im Kindes- und Jugendalter kann man depressive Episoden sehr gut an deren Auswirkungen auf Leistung und Interessen der Heranwachsenden erkennen. Bestimmt kennen auch Sie einen pubertierenden Jungen oder ein pubertierendes Mädchen mit plötzlichem Leistungsabfall in der Schule und völligem Verlust des Interesses an Hobbys, die zuvor Freude bereitet haben. Selbst haben diese Kinder oft keinen Leidensdruck, ihnen scheint eigentlich alles egal zu sein. Diese Erscheinungsform der herabgesenkten Stimmung im Kindes- und Jugendalter nennt man Dysthymie. Meistens wird sie nicht medizinisch oder therapeutisch behandelt, sondern vergeht von alleine. In solchen Situationen sprechen die Leute dann davon, dass dem Jungen oder dem Mädchen doch nun endlich "der Knopf aufgegangen" sei. Nicht selten schaffen diese Jugendliche dann einen relativ guten Schulabschluss und sind kaum wieder zu erkennen verglichen mit dem "faulen" Kind, das sie doch früher waren.

Bei Erwachsenen wird im Falle einer depressiven Verstimmung meistens alles, was vorher positiv besetzt war, ins Negative gekehrt. Es wird das Selbstverständliche hinterfragt und angezweifelt, jede Kleinigkeit als Bedrohung wahrgenommen. Wenn ein Ehepartner zum Beispiel an einer Depression erkrankt, kommt es automatisch dazu, dass er "seinen Teil" nicht mehr leisten kann. Er oder sie hält sich dann nicht mehr für liebenswert. Dies äußert sich dann im Zusammenleben dahingehend, dass ständig Grundsatzdebatten wieder und wieder geführt werden müssen und am anderen permanent herumgenörgelt wird. 

Wenn wir über die Stimmung sprechen, die sich nicht mehr im Rahmen der Norm bewegt, dann ist eine auffällig herabgesenkte Stimmung also Symptom einer depressiven Erkrankung bzw. Dysthymie. Das Gegenstück hierzu wäre dann eine auffällig gehobene Stimmung, auch Hypomanie genannt. Diese ist dann vor allem im Kontext einer bipolaren Störung für die Feststellung einer darauffolgenden Depression wichtig, nicht jedoch im klassischen Fall der depressiven Erkrankung.

Die Freudfähigkeit

Nehmen Sie sich doch kurz einen Augenblick Zeit und denken an die kommenden drei bis sechs Monate. Finden Sie in diesem Zeitraum ein Event, ein Ereignis, ein Fest, eine Begegnung auf die sie sich so richtig freuen? Ja? Glückwunsch, dann ist ihre Freudfähigkeit in einwandfreiem Zustand. Nein? Nun, dann sollten Sie vielleicht jetzt etwas genauer aufpassen.

Um die Freudfähigkeit zu erklären, möchte ich Ihnen verschiedene Beispiele geben, in welchen die Betroffenen unter mangelnder Freudfähigkeit leiden. Kennen Sie beispielsweise die Wochenbettdepression? Viele Mütter nach der Entbindung sind von dieser Art der Depression betroffen. In manchen Fällen ist diese depressive Phase so intensiv, dass die betroffene Mutter tatsächlich ihr eigenes Kind nicht mehr erkennt. Das Gesicht eines depressiven Menschen zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es sehr starr ist und überhaupt keine sogenannte Schwingungsfähigkeit mehr vorhanden ist. Diese jedoch ist vor allen Dingen bei Kindern sehr wichtig für deren emotionale Entwicklung und Bindung. Deshalb ist gerade in solchen Fällen der quasi völlig ausbleibenden Freudfähigkeit eine akute Behandlung der Erkrankung unglaublich wichtig, um bleibende Schäden für Mutter und Kind zu verhindern. 

Generell kann davon gesprochen werden, dass im Falle einer Depression die Fähigkeit zur "Vorfreude" quasi ausradiert erscheint. Oftmals kennt man dieses Symptom auch vom eigenen Verwandtschaftskreis: Die Tante, die Weihnachten nicht ausstehen kann und immer über die Feiertage nach Teneriffa fliegt - oder so ähnlich. Wenn auch Sie beispielsweise an ein Familienfest wie dieses denken, können Sie ja mal für sich schauen: Kann ich mich auf diese Events freuen? Oder empfinde ich einfach nur Stress und Nervosität beim Gedanken an das Fest? 

Ein anderes Beispiel für die Symptomatik der mangelhaften Freudfähigkeit ist auch die Frau, die plötzlich, von einem Tag auf den anderen, die Lust am Dekorieren verliert. Kein Blumenstrauß, keine Vase, kein Schmuckstück kann ihr mehr ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Die Welt um sie herum scheint wie durch einen Farbfilter ergraut zu sein. Völlig egal was sie wohin stellt - es macht in ihrer tristen Umgebung sowieso keinen Unterschied mehr. 

Patienten beschreiben diese ausbleibende Freudfähigkeit oft metaphorisch als würden sie von einem schwarzen Loch in die leere Tiefe gezogen oder als würden sie von dieser inneren Leere förmlich aufgefressen werden. Das macht den Menschen Angst. Es fühlt sich für den Betroffenen so an, als habe er keine Ressourcen mehr, aus denen er seine Energie beziehen könnte. Dies wiederum führt zur völligen sozialen Abschottung, ganz so als würden dem Menschen Scheuklappen aufgesetzt. Der jahrelang im Verein tätige Obmann klinkt sich aus jeglicher Vereinstätigkeit aus, der liebende Ehemann zieht sich vollkommen aus der Beziehung zurück und erscheint für die Ehefrau unerreichbar, der gesellige Kollege möchte kein Wort mehr mit den anderen reden und vermeidet jedes Betriebsfest. All dies führt dazu, dass Betroffene in einen Teufelskreis der Verzweiflung geraten, aus dem nur sehr schwer wieder zu entkommen ist und der nicht selten in suizidalen Gedanken und Handungen endet - wenn dem nicht rechtzeitig begegnet wird.

Der Antrieb

Während die Stimmung und die Freudfähigkeit vor allem Symptome auf psychischer Ebene darstellen, bezeichnet der Antrieb die somatische Komponente der depressiven Erkrankung. Was bedeutet das nun genau? Bei einer sogenannten "atypischen Depression" ist diese Komponente besonders ausgeprägt. Betroffene weisen keine gedrückte Stimmung auf und haben auch keine mangelnde Freudfähigkeit. Doch diese Patienten der atypischen Depression bringen, salopp gesagt, einfach nichts mehr zu Ende. Die Beine sind schwer, jede Treppe erscheint wie eine Wanderung den Mount Everest hinauf. Das Haus ist fertig gebaut, aber das Gerüst steht noch Jahre danach, weil man schlichtweg nicht mehr den Antrieb hatte, die Farbe auf die Hauswand zu machen. Eine atypische Depression ist jedoch nur in seltenen Fällen die Diagnose der Wahl, denn meistens ist der fehlende Antrieb eben nur eine weitere Komponente neben den psychischen Symptomen. Vor allem bei Jugendlichen habe ich jedoch bereits die Erfahrung gemacht, dass diese im Falle einer depressiven Erkrankung "das Pferd von hinten aufsatteln" und die körperlichen Symptome vor den psychischen auftreten. Bei den meisten Erwachsenen geschieht dies in umgekehrter Reihenfolge.

Warum gibt es überhaupt diese zeitliche Verschiebung des Eintritts der unterschiedlichen Symptome? Zur Beantwortung dieser Frage hilft ein Blick in die Biologie unseres Gehirnes...

Auf diesem Bild ist eine Darstellung unserer "Datenautobahnen" im Gehirn erkennbar: Die Neuronen. Diese Neuronen können zu Bündeln zusammengefasst werden und ein jedes solches Bündel ist letztlich für eine andere Funktion zuständig. So gibt es eben ein Bündel, das die Stimmung eines Menschen "reguliert" und ein anderes, welches für den Antrieb verantwortlich ist. Bei einer Depression funktioniert nun die Kommunikation dieser einzelnen Neuronen nurmehr mangelhaft, da weniger Botenstoffe (zum Beispiel Serotonin, Dopamin, Noradrenalin usw.) produziert und ausgeschüttet werden. Ohne diese Botenstoffe können allerdings elektrische Signale, welche letztlich ein Lebewesen zum lebenden Wesen machen, nur noch langsamer und nicht mehr in derselben Frequenz wie zuvor übermittelt werden. Viele Psychiater sprechen daher davon, dass die Depression in Wahrheit eine organische Erkrankung ist - also vergleichbar mit Diabetes zum Beispiel.

 

Hört sich schon viel weniger gruselig an, oder?

Depression - und was jetzt?

Nun sind Sie ja schon fast Experte, wenn Sie bis hierher gekommen sind! Die oben beschriebenen drei Diagnosekriterien für eine klassische Depression sind für jeden Psychiater und Psychotherapeuten essentiell beim Feststellen einer depressiven Erkrankung. Und? Haben Sie sich in den Beschreibungen vielleicht wiedererkannt? Oder treffen die Beschreibungen der gedrückten Stimmung, fehlenden Freudfähigkeit und des mangelnden Antriebs auf eine Person in Ihrem näheren Umfeld zu? Was macht man in so einem Fall denn nun?

 

Generell ist ein Gespräch beim Psychiater in jedem Fall eine große Hilfe. Dieser kann mit Ihnen gemeinsam dann feststellen, ob Sie mit der Vermutung einer Depressionserkrankung richtig liegen und ob eine leichte, mittelgradige oder schwere Depression vorliegend ist. Zusammen mit dem Arzt oder der Ärztin können Sie dann ermitteln, wie in Ihrem Fall am besten vorgegangen wird. Brauchen Sie vielleicht ambulante Psychotherapie? Oder könnte die Einnahme eines Antidepressivums helfen? Vielleicht ist die Kombination aus beidem für Sie der richtige Weg zum Ziel? Wäre eine stationäre Behandlung im Ernstfall eine denkbare Lösung?

 

Wenden Sie sich am besten zuerst an Ihren Hausarzt, dieser kann Sie an einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie überweisen. Falls Sie gerne eine ambulante psychotherapeutische Behandlung (auf welche Sie übrigens in Deutschland jederzeit ein Recht haben!) in Anspruch nehmen wollen, können Sie auch auf der Website der KVB nach einem freien Psychotherapie-Platz in Ihrer Nähe suchen. Hier kommen Sie zur entsprechenden Internetseite:

Natürlich können Sie auch jederzeit mich persönlich kontaktieren - ich stehe Ihnen gerne mit Rat und Tat zur Seite. Zusammen können wir schauen, wie ich Ihnen in Ihrer Situation am besten helfen könnte oder welche Schritte Sie selbst auf dem Weg der Besserung gehen könnten.

Falls Sie mich telefonisch kontaktieren möchten, bin ich für Sie am besten mittwochs von 9 bis 12 Uhr zu meiner regulären Sprechzeit erreichbar.

 

Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch auf die Arbeit der Stiftung Deutsche Depressionshilfe hinweisen. Auch ich bin hier im "Bündnis gegen Depression Rottal-Inn" als Vorstandsmitglied aktiv. Hier werden beispielsweise in meiner Region, Rottal-Inn, jeden ersten Mittwoch des Monats Gespräche mit Fachleuten angeboten, welche ohne Termin zur angegebenen Zeit, nämlich von 17:15 bis 18:15, geführt werden können und in denen alle Ihre Fragen einen Raum finden. Mehr Informationen zum Bündnis finden Sie hier:

Die Message, die ich am Ende dieses Artikels nun noch bei Leser und Leserin angekommen wissen möchte, ist:

 

Es gibt Hilfe. Lassen Sie sich helfen. Sie sind nicht allein. 

 

- M. Liebmann